Yvonne Hofstetter Rogger

«Den Sinn von Langsamkeit erkennen lernen.»

Was zeichnet die Alters- und Generationenmediation aus? Warum ist Flexibilität in der Verfahrensgestaltung so wichtig? Raymund Solèr hat sich mit der Mediatorin Yvonne Hofstetter Rogger auf einem ausgedehnten Spaziergang über die Praxisfelder der «Elder Mediation» unterhalten.

 

Du setzt dich seit vielen Jahren mit «Elder Mediation», oder auf Deutsch Alters- und Generationenmediation, auseinander, hast zu diesem Themenfeld eine Fachgruppe gegründet und bist mit Expertinnen und Experten in diesem Bereich eng vernetzt. Du bist also die richtige Ansprechperson, um zu erklären, was unter «Elder Mediation» verstanden wird.

Ich habe vor etwa zehn Jahren für kanadische Mediatorinnen, die sich auf Altersmediation spezialisiert haben und einen Zugang zum deutschsprachigen Raum suchten, in der Schweiz einen Kongress organisiert. Da habe ich mich gefragt, warum es überhaupt ein zusätzliches spezifisches Anwendungsgebiet braucht. Wir haben doch bereits die Familienmediation, die sich ja nicht auf Trennung und Scheidung beschränken muss. Dann habe ich aber gesehen, dass «Elder Mediation» ein eigenständiges Fachgebiet ist: «Mediation in Age-Related Issues». Im Pionierland Kanada und anderen angelsächsischen Ländern lag der Fokus lange auf Alter und Gesundheit, auf der Unterstützung von Familien in Übergangssituationen im Alter, oft verbunden mit Krankheit.

Im deutschsprachigen Raum setzen wir heute den Akzent auf Alters- und Generationenfragen, sei es im sozialen Nahbereich, in Alterseinrichtungen oder in der Arbeitswelt. Da geht es um das Altern und um ältere Menschen in ihrem gesamten Kontext. Wie gestaltet man zum Beispiel ein Leben im Heim? Hier sind sowohl die Bewohnenden wie auch das Personal und die Führung, je nach Thema auch die Angehörigen gefragt. Zudem nehmen wir verstärkt die Generationenkonflikte in Unternehmen und Organisationen in den Fokus. Differenzen zwischen den ganz Jungen und den sehr Erfahrenen sind zusehends gross geworden. Wir gehen davon aus, dass der Verständigungsbedarf zwischen den Generationen in allen Lebensbereichen immer bedeutsamer wird. Wir werden zunehmend zu einer Vier-Generationen-Gesellschaft. Die Erfahrungswelten und die damit verbundenen Wertvorstellungen zwischen ganz jung und ganz alt können weit auseinander liegen.

Verstehe ich das richtig, dass die «Elder Mediation» eine Art Querschnittthema ist, das in sehr unterschiedlichen Praxisfeldern einer immer älter werdenden Gesellschaft zur Anwendung kommen kann?

Ja, es ist richtig, wir sind zunehmend älter geworden. Aber ich weiss nicht, wie dieser Prozess weitergeht. Ich spreche gerne von einer «Langlebigkeitsgesellschaft», die uns vor neue Herausforderungen stellt. In der Öffentlichkeit werden die problematischen Seiten dieser Entwicklung gerne thematisiert. Wie müssen wir das Sozial- und Gesundheitswesen entsprechend anpassen? Wie finanzieren wir in Zukunft die Altersrenten? Ich möchte aber auch die Chancen betonen, die in dieser Entwicklung liegen.

Mit welchen Themen oder Konfliktfeldern werden wir in der Praxis der Altersmediation konfrontiert?

Oft geht es um Konflikte, die sich rund um die Pflege und Fürsorge älterer Menschen ergeben. Ich hatte kürzlich eine Mediation durchgeführt, bei der es um eine Tochter und ihren etwas fragil gewordenen Vater ging, die unter dem gleichen Dach zusammenwohnten. Der Vater war stark auf Autonomie bedacht, und er ging dafür auch einige Risiken ein. Dies bereitete der Tochter Sorgen, die so weit gingen, dass sie gegenüber ihrem Vater übergriffig wurde. Die Tochter hat gemerkt, dass sie Unterstützung braucht. Daraus hat sich in der Folge ein wertvoller Mediationsprozess entwickelt.

«Gute, sachliche Regelungen entlasten die Beziehungen.»

Häufig sind auch Konflikte unter Geschwistern, die sich rund um die Fürsorge ihrer pflegebedürftigen Eltern ergeben. In diesen Situationen können alte Familienkonflikte wieder aufbrechen. Für Mediatorinnen und Mediatoren ist es wichtig, diesen Familienge- schichten würdigend Rechnung zu tragen und gleichzeitig darauf zu fokussieren, worum es aktuell für das Wohlergehen der Eltern geht. Ebenfalls häufig sind Konflikte zwischen Lebenspartnern im Alter, bei denen es ebenfalls um Autonomie geht. Eine ganz typische Geschichte ist da die Auseinandersetzung, wenn es zum Beispiel um die Abgabe des Fahrausweises geht.

Wie können ältere Menschen, die am Familienkonflikt beteiligt und vielleicht schon etwas dement sind, in die Mediation einbezogen werden?

Die betroffene Person sollte, wenn immer möglich, in der Mediation dabei sein, vor allem wenn es um ihre konkrete Lebensgestaltung und mögliche Einschränkungen geht. Wenn ihre Möglichkeiten beschränkt sind, ist es die Aufgabe der Mediatorin, dafür zu sorgen, dass ihre Stimme genug Aufmerksamkeit und Gewicht bekommt. Es stellt sich die Frage, wer sich im Gespräch für die Bedürfnisse der betroffenen Person stark machen kann. Wenn eine involvierte Person diese fürsprechende Rolle übernimmt, kann das heikel werden, da dabei die verschiedenen Hüte verwechselt werden können. Wenn es um rechtliche Fragen geht, ist der Beizug einer Rechtsanwältin auf jeden Fall sinnvoll. Wenn die betroffene Person selber am Gespräch teilnimmt, haben wir zudem kein Problem mit der Schweigepflicht gegenüber externen Personen. Für die Mediation in einem solchen Kontext ist es auch wichtig, auf die Tageszeit zu achten. Wer an einer Demenz leidet, hat oft Zeiten, zu denen ein Gespräch besser möglich ist. Die Verhandlungsfähigkeit ist oft auch vom Thema abhängig, um das sich das Gespräch dreht.

Wie gehen wir damit um, wenn eine betroffene Person zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen nicht am Gespräch teilnehmen kann?

In einer solchen Situation empfehle ich, das Gespräch darauf zu fokussieren, was die anwesenden Personen bereit sind, in Fürsorge und Pflege einzubringen. Es soll vermieden werden, für die abwesende Person zu sprechen. Um uns im Gespräch auf die abwesende Person beziehen zu können, gibt es aus der Familienmediation bewährte Methoden wie zum Beispiel mit einem Bild oder einem leeren Stuhl, der mit am Tisch steht.

Bedeutsam für die Altersmediation scheint mir die Offenheit gegenüber Einzelgesprächen zu sein. Es gibt da eine Altlast aus den Anfängen der Familienmediation, Einzelgespräche zu vermeiden und nur im Notfall oder als Ausnahme zuzulassen. Wir machen die Erfahrung, dass Einzelgespräche ein wichtiges Instrument sein können, um den Weg der Lösungsfindung zu ebnen.

Welche Haltungen können in der Altersmediation hilfreich sein?

Alters- oder Generationenmediationen erfordern in der Verfahrensgestaltung oft Abweichungen vom Standardverfahren. Gerade weniger erfahrene Mediatorinnen und Mediatoren lehnen sich gerne an die Abfolge von Verfahrensschritten an. Damit wir uns trotzdem in sicheren Schuhen bewegen, kommt es auf die Haltung an. Ich muss verstehen, dass ich als dritte Akteurin im Konflikt alleine durch meine Anwesenheit und meine Zuversicht, dass Konflikte geregelt werden können, das streitende System verändere. Wenn ich meine Ruhe bewahren kann, verändert sich die Dynamik der Streitenden. Auch wenn ich nicht weiss, wie wir einen Weg aus diesem Konflikt herausfinden können, vertraue ich auf die Wirkung, die meine fragende und zuversichtliche Haltung und meine empathische Zuwendung auf der einen wie der anderen Seite entfalten kann. Die Chancen wachsen, dass ich das gemeinsame Dritte wieder ins Spiel bringen kann.

«Es braucht Offenheit, um das Verfahren angemessen zu gestalten.»

Das können zum Beispiel gemeinsame Werte sein oder der gemeinsame Wunsch, die Familiengeschichte in einen guten Lauf zu bringen. Denn gute, sachliche Regelungen entlasten die Beziehungen. Gerade Menschen, die das Leben sehr aktiv und selbstständig gestaltet haben, müssen Wege finden, wie sie mit Schicksalsschlägen umgehen. Sie brauchen Zeit, um die Bereitschaft zu entwickeln, sich auf Ungewissheiten und Mehrdeutigkeiten von Situationen einzulassen.

In der Altersmediation ist eine Haltung sehr hilfreich, die schräges Denken wertschätzt. Es lohnt sich, sich darauf einzustimmen, dass Eigenwilligkeit einen grossen Wert hat – genau diese Eigenwilligkeit, die von anderen manchmal als unerträglich empfunden wird. So können wir den Zugang zum Goldklumpen in jedem Menschen wiederfinden. Und das ist die Kraft, die wir als Dritte in den Konflikt einbringen können.

Das neue Erwachsenenschutzrecht hat die Stellung der Familienangehörigen gegenüber älteren, schutzbedürftigen Menschen verändert. Welche Erfahrungen machst du damit?

Der neue Vorsorgeauftrag ist ein grosser Fortschritt. Damit können wir alle selbstbestimmt festlegen, wer für uns entscheiden soll, wenn wir dazu selbst nicht mehr in der Lage sind. Da kommt es aber auch zu Konflikten. In manchen Fällen übergeben die Eltern den Vorsorgeauftrag an eins ihrer Kinder, ohne mit den anderen zu sprechen. Oder es steht etwas über die Entschädigung in diesem Auftrag, von dem die Geschwister nichts wissen. Über solche Aufhänger kann trefflich gestritten werden. Es kann sich auch herausstellen, dass die beauftragte Person nicht die für den Auftrag geeignetste Person ist.

«Wenn ich meine Ruhe bewahren kann, verändert sich die Dynamik der Streitenden.»

Ein grosses Konfliktpotenzial ergibt sich auch, wenn der mit der Vorsorge beauftragte Geschwisterteil ganz andere Vorstellungen als die Geschwister hat, was die Pflege der gemeinsamen Mutter betrifft. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass er die Mutter möglichst lange bei sich zu Hause pflegen will, obwohl er damit selbst weit über die Grenzen gefordert ist. Oder er hat ganz bestimmte Vorstellungen, welche Medikation für die Mutter passt, und gibt ihr zum Beispiel die Schmerzmittel nicht, die eigentlich angezeigt wären. Solche Situationen können für Familien schwierig werden, da das beauftragte Familienmitglied ja eine besondere Machtposition hat.

In solchen Situationen kann es sein, dass ich als Mediatorin deklariere, dass ich das Gespräch mit einer bestimmten Haltung führen und das Wohl der betroffenen älteren Person in den Vordergrund stellen werde. Das entspricht nicht ganz den Standardregeln der «Elder Mediation», die die Fürsprache für den älteren Menschen nicht an die mediierende, sondern an eine zusätzlich beigezogene Person delegieren. Das macht an sich zwar Sinn, doch in der Praxis kommt es vor, dass kein «Fürsprechender» organisiert werden konnte. Dann erkläre ich meine Haltung und gehe – solange ich es verantworten kann – wieder in meine vermittelnde Rolle. Wenn ich den Schutz der betroffenen Person explizit ins Zentrum rücken muss, handelt es sich zwar immer noch um ein mediatives Gespräch, jedoch nicht mehr um eine Mediation im strengen Sinne. Dies tue ich vor allem dann, wenn ich im Rahmen der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA) tätig bin. Hier gehört der Schutz des alten Menschen zu meinem Kernauftrag. In einer klassischen Mediation würde ich entweder dafür sorgen, dass eine andere Person die Interessen des alten Menschen vertritt, oder bei den Beteiligten das Einverständnis einholen, auf diese Weise weiterzufahren. Generell ist mir methodische Flexibilität in der Praxis wichtig, gepaart mit einer mediativen Haltung und der Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligter.

Könnte eine mediative Gesprächsführung zum Beispiel bei der Erstellung eines Vorsorgeauftrages bereits eine konfliktpräventive Rolle spielen?

Ich plädiere sehr dafür. Transparenz ist in solchen Situationen zentral. Ältere Menschen, die sich möglicherweise vor Konflikten fürchten, neigen gerne dazu, schnell mal etwas aufzusetzen, um das unangenehme Thema vom Tisch zu bekommen. Das empfehle ich nicht, denn es lohnt sich, die Formulierung eines Vorsorgeauftrages sorgfältig unter Beizug einer Drittperson zu erstellen. Über dieses Beispiel hinaus sehe ich ein grosses Potenzial für die mediative Gesprächsfürung in der Altersmediation.

Kommen wir nochmals auf die Arbeitswelt zurück:
Was kann mediative Gesprächsführung hier bringen?

Gerade in grösseren Unternehmen wächst ein Bewusstsein, dass bei internen Spannungen die Dimension der unterschiedlichen Generationen ein Thema sein könnte. Wir sind darauf angewiesen, dass die jungen dynamischen Mitarbeitenden in eine gute Zusammenarbeit mit den «alteingesessenen», erfahrenen Kolleginnen und Kollegen kommen. Es braucht die neuen Ideen der Jungen genauso wie die Erfahrung der vorangehenden Generationen, um Innovation und Stabilität in ein Gleichgewicht zu bringen. Die für das Unternehmen extrem wertvollen Erfahrungen sind gebunden an einzelne Mitarbeitende. Dieses Wissen kann nur mit guten Beziehungen in Fluss gebracht werden. Wenn die Beziehungen schlecht sind, behalten die Mitarbeitenden dieses Wissen zum eigenen Vorteil für sich.

Was können andere Berufsgruppen von den Erfahrungen mit der Alters- und Generationenmediation lernen?

Wer immer sich mit Konflikten beschäftigt, auch in anderen Praxisfeldern, lernt den Sinn von Langsamkeit erkennen. Es lohnt sich, langsam an den Konflikt heranzugehen und genau hinzuschauen, worum es geht und was es braucht. Wir sollten ganz bewusst nicht einfach ein Standardverfahren «abspielen». Es braucht Offenheit, um ein Verfahren angemessen zu gestalten. Zu beachten sind nicht allein die inhaltlichen Interessen der Beteiligten, sondern auch die Verfahrensinteressen. Die für eine Mediation typischen Blickfelder «Sache», «Beziehung» und «Emotionen» sollten zuerst einzeln betrachtet und erst anschliessend wieder verbunden werden. Für die Mediation ist es tragend, dass wir uns in diesem Dreiklang bewegen können, und ich denke, zum Beispiel in der Beratung ist das nicht anders.

Ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch.

 

Yvonne Hofstetter Rogger ist Sozialarbeiterin und arbeitet als Mediatorin in selbstständiger Praxis. Sie ist ehemalige Professorin für Mediation und Case Management an der Berner Fachhochschule, Mitherausgeberin der Fachzeitschrift «perspektive mediation» sowie Leiterin einer regionalen Fachkommission der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA).

Das Gespräch mit Yvonne Hofstetter Rogger ist publiziert im IEF-Magazin Nr. 12, Frühling 2021.